Erläuterungen zur „Altenberger Erklärung“ von Pfingsten 2020
„Wir sind doch schon so weit gekommen“
Ist nicht 2017 alles schon auf den Punkt gebracht? In der Hildesheimer St. Michaelskirche, der jetzt evangelischen Memorialkirche des bedeutenden Bischofs Bernward, der Freundes Ottos III.i wurde in der Buss- und Fastenzeit der eindrückliche Versöhnungsgottesdienst zwischen den Repräsentanten der deutschen Evangelischen und Katholiken gefeiert. In ihm kam es zu der bis dahin un-erhörten wechselseitigen Aussage: „Wir sind dankbar, dass es Euch gibt und dass Ihr den Namen Christi tragt“.
Man darf sich das auf der Zunge zergehen lassen: „Wir sind dankbar, dass es Euch gibt!“ Waren wir bis dahin nicht prinzipiell der Meinung, dass es alles andere als wünschenswert war und ist, dass es „Euch“ gibt, die „Anderen“ ? War und wäre es uns nicht viel lieber, wir wären es alleine, die Christi Namen tragen? Wir als die allein mit seinem Namen Geehrten. Die ihn auch allein für sich und ihr Sein und Tun in Anspruch nehmen dürften. Es waren mutige, frei-mütige Worte, be-freiende Worte. Und man darf dankbar sein, dass sie gewagt wurden. Und, dass die, die sie gesprochen haben, für ihren Freimut Anerkennung fanden. Mancher mag gestutzt haben, aber dann auf einen Schlag verstanden: ja! Wir sind in manchem verschieden, aber wir gehören zusammen. Wir schulden einander Dank. Sogar haben wir schon Freude aneinander gefunden. Daran kann auch Ärger nichts ändern, den wir auch aneinander hatten und wohl auch weiter haben können.
Und, man mag kurz auch bedacht haben: wo stünden wir denn ohne die „Anderen“?
Die Katholiken, die sich bis zu den Bischöfen hinauf jahrzehntelang Denkverboten ihrer Kirche unterwarfen, die Protestanten, die in Deutschland scharenweise bis in die Pfarrerschaft hinein den Nazis nachliefen – bis endlich, im Untergrund und in Gefangenenlagern sich die Una Sancta fand. Sie verbindet geistlich heute schon uns alle, die den Namen Christi tragen, in Vielfalt erneuerten Glaubens-Lebens und Gottesdienst-Feierns, samt den Christen von weither in unserer Mitte.
Blicken wir zurück auf den Anfang dieses Jahres 2017, seinen Vorabend: das gemeinsame Reformationsfest des Lutherischen Weltbunds 2016 in der Kathedrale im schwedischen Lund, gefeiert von Zelebranten, unter denen, in gleich schlichter Albe wie die anderen, sich der amtierende Bischof von Rom, Papst Franziskus, befand. Und sah man nicht danach noch ein nettes Foto, wie er sich mit einer schwedischen Lutheranerin, Erzbischöfin von Uppsala, umarmte?
Was soll da noch fehlen am happy end nach dem Streit um die Scheidung unserer Kirchen? Der Altenberger Ökumenische Gesprächskreis meint: Nacharbeit ist nötig.
Es müssen aber noch „Nägel mit Köpfen“ eingeschlagen werden
Der Weg schien schon 1999 soweit geebnet, dass man darauf nur gerade weitergehen müsse. Man hatte sich in der aus evangelischer Sicht gravierendsten Frage, seit Reformationszeiten als der articulus stantis et cadentis ecclesiae angesehen, verständigt. Damit war evangelisch die römisch-katholische Kirche als Kirche anerkannt, der man die evangeliumsgemässe Verkündigung nicht mehr absprechen konnte. Es war für die evangelische Seite ein schwerwiegender Schritt, wie der nicht zu übersehende erhebliche Widerspruch aus Theologenreihen zeigte. Hatte man damit doch seinen spezifischen Anspruch in dieser Frage relativiert und als Unterscheidungsmerkmal gegenüber Rom aufgegeben. Und das, obgleich der überkommene, seit dem Vaticanum I sogar verstärkte Verdacht weiter im Raume schwebte, dass die römisch-katholische Ekklesiologie diesen Konsens per se in Frage stelle. Selbst die dogmatisch verbindliche Formulierung des Vaticanum II in Dei Verbum: „das kirchliche Amt steht nicht über dem Wort Gottes, sondern dient ihm“ hatte noch nicht alle evangelischen Sorgen in dieser Hinsicht ausräumen können. So war die Weiterarbeit an den ekklesiologischen Fragen erforderlich.
Der Auftrag dazu war im vorletzten Paragraphen der „Gemeinsamen Erklärung“ angesprochen, nämlich zu klären, was „unser Konsens in Grundwahrheiten der Rechtfertigungslehre“ besagt u. a. für „die Lehre von der Kirche“ii. Da schien, mitten in der ökumenischen Euphorie nach dieser epochalen Verständigung im letzten Jahr des alten Millenniums sogleich im neu begonnenen Millennium ein einziger Satz, kirchenamtlich veröffentlichtiii, das Erreichte noch einmal in Frage zu stellen und löste eine ökumenische Schockwelle aus, die erst durch vielerlei Bemühung nach einem Jahrzehnt überwunden werden konnte. So durch Erarbeitung von Grundlagen für die Möglichkeit der wechselseitigen Anerkennung kirchlicher Ämter im Blick auf ihr zwar unterschiedliches Gewordensein, jedoch den sie verbindenden Dienst-Sinn. Sodann durch die von der Gemeinsamen Lutherischen/Römisch-Katholischen Kommission 2013 erarbeitete Wegweisung „Vom Konflikt zur Gemeinschaft“. Sie führte weltweit wie national zum vertrauensvollen Miteinander des Gedenkens des Reformationsjubiläums 2016/17 und zur Mitfeier durch Papst Franziskus.
Doch, so gewiss nicht nur die Meinung des Altenberger Ökumenischen Gesprächskreises: auf die hilfreichen und vorausweisenden symbolischen Akte von Lund, von Hildesheim und manchen anderen, müssen kirchenrechtlich relevante Festlegungen der Kirchen folgen, wenn sie Rückfällen in ein vor-versöhntes Denken vorbeugen und das Fortschreiten im Miteinander unumkehrbar machen wollen.
Die Erklärung des Altenberger Ökumenischen Gesprächskreises
Der Altenberger ökumenische Gesprächskreis ist entstanden bei einem Symposion „Unsere ökumenische Zukunft“ im Alten Brauhaus beim Altenberger Domiv. Es war anlässlich eines Geburtstags ihres Gründers, Hans-Georg Link, Ökumenepfarrer in Köln und zuvor deutschsprachiger Sekretär der Kommission des Weltrats der Kirchen Faith and Order.v Das geschah im unmittelbaren Vorfeld jener, wie erhofft, bahnbrechenden Gemeinsamen Erklärung einer Übereinkunft zu „Grundfragen der Rechtfertigungslehre“ am letzten Reformationsfest im Alten Jahrtausend. Da, so die Überzeugung, müsse sogleich entschieden und kontinuierlich weitergedacht werden.
Das tat dieser Kreis, immer die Chancen des Augenblicks auslotend, zum Ersten Ökumenischen Kirchentag in Berlin mit seiner Veröffentlichung „Eucharistische Gastfreundschaft. Ein Plädoyer evangelischer und katholischer Theologen“vi, zum 2. Ökumenischen Kirchentag 2010 in München „Kirchengemeinschaft JETZT. Die Kirche Jesu Christi, die Kirchen und ihre Gemeinschaft“vii, und zum 500. Gedenkjahr des Beginns der Reformationsdebatten mit den Ablassthesen Martin Luthers „Zeit der Versöhnung. Wege in die Zukunft der Ökumene“viii. Eine weitere ist nun in Vorbereitung, ergänzend zu der hier anzuzeigenden „Erklärung“ix, zu dem weiteren Reformations-Erinnerungsjahr und „Ökumenischen Jahr“ sowie III. Ökumenischen Kirchentag 2021, „Verdammt in alle Ewigkeit ?“x
Der „kairos“ von 2017 hält an. Die Zeit der Versöhnung ist noch nicht ausgekauft (Eph. 5,16), das Böse vergangener Tage reicht noch unüberwunden ins Heute. Die Wege in die Zukunft sind noch nicht hinreichend freigelegt. Es liegen unbehauene Felsbrocken auf dem Wege, Stolpersteine, die für die Pro-zession in die Zukunft der Ökumene aus dem Wege geräumt werden müssen.
Zwei davon hat der Altenberger Gesprächskreis in seiner Erklärung identifiziert. Und er scheut sich nicht, Roß und Reiter beim Namen zu nennen: einen Papst, Leo X., Rom, und einen Professor, Martin Luther, Wittenberg. Beide, so die Einschätzung, haben gefehlt und ihre Rolle verfehlt. Der eine, weil er das Thema verfehlte, der andere, weil er sich sprachlich vergriff: der eine im Gestus der Macht statt mit Debatte und Reform mit Exkommunikation – der andere im Gestus des Propheten, der apokalyptischen Endkampf zwischen Christus und dem Anti- und Endchrist ausruft. Beides zusammen erwies sich als folgenreich. Neben in der Tat enormen Aufbrüchen und folgenden Selbstkonsolidierungen, die nicht in Gemeinschaft gelangen und so in Feindschaft ausarteten, zeitigte es unabsehbares Unheil – für ein halbes Jahrtausend der Christenheit.
Wie konnte es dazu kommen? Und wie könnte geheilt werden? Es erwies sich als nötig, einen Blick auf das Ganze der Kirchengeschichte zu werfen.
Nur einmal zuvor hatte es ja einen so gravierenden Einschnitt in ihr gegeben – 1054, mit der gegenseitigen Exkommunikation der Repräsentanten der West- und der Ost-Kirche. Auch die Separationen des ersten Jahrtausends, welche die altorientalisch-orthodoxen Kirchen von der Reichskirche trennten, sind schmerzhaft bis heute. Und die Westkirche hatte bereits einen Vorgeschmack der Herausforderung des in ihr erstarkten Papsttums in den Konflikten um Jan Hus und das Konstanzer Konzils erlebt samt ihrer Folgegeschichte. Aber nun wurde sie regelrecht in Teile zerrissen.
Ein Stück kirchlicher Verhaltenstherapie
Der Altenberger Kreis spricht in seiner aktuellen Erklärung und der sie begleitenden Publikation nicht Empfehlungen aus zu dem einen oder anderen noch so wünschenswerten Konsens. Er ersucht um etwas anderes. Er bittet, zurückzutreten von Schritten, die getan wurden aus einer Mentalität der Kommunikations-Verweigerung, blind für deren in der Tat unabsehbare Folgen. Er spricht aus der Erfahrung der Heutigen, die diese Folgen kennen und nicht länger mitverantworten wollen, da eine neue Sicht der Dinge, verbindet man sich nicht selbst die Augen, durchaus in Sicht ist. Er versucht zu sprechen auch in Kenntnis, dass jene Mentalität ihr Ende noch nicht gefunden hat. Daher sucht er nach Beispielen, wo es gelungen ist, diese Mentalität zu überwinden, wenn nötig sie zu überlisten: Wo sie auf alte Praxis verweist, dort eine neue Praxis beginnen. Wo sie auf Rechtssätzen besteht, dort einen anderen Rechtssatz setzen. Wo sie auf Buchstaben beharrt, dort einen anderen Buchstaben niederschreiben. Wo sie sich auf heilige Handlungen beruft, eine neue heilige Handlung begehen. Vielleicht ein Stück kirchlicher Verhaltenstherapie.
Denn die Geschichte nötigt zu fragen, wie kann es dazu kommen, dass gelernt wird? Wie kann, wenn es sich als unabdingbar erweist, dass die Gewissen, so sehr sie sich an Kern und Stern der im Glauben erfassten Botschaft gebunden und von ihr befreit wissen – sich doch an die Formen, die Formulierungen, die Formatierungen, die uns überkommen sind, nicht mehr gebunden wissen in jedem Wortlaut, in jeder Rechtssetzung, in jeder seit alters vorgeschriebenen Praxis – wie kann da die Frage nach Um-Formatierungen, im Kleineren wie im Grösseren, angegangen und auch beantwortet werden? Wie gelingt es, uns von überkommenen Mentalitätsschrankenxi zu befreien? Wenn dies die vorgängige Aufgabe ist, mag dann Überprüfung objektiv erscheinender Hindernisse – Lehren und Strukturen – besser gelingen.
Für diese vorgängige Aufgabe möchten unsere Vorschläge eine Anregung geben. Wenn eine Ex-Kommunikation und ihre Folgen aus heutiger Sicht sich – sagen wir vorsichtig: als problematisch erwiesen hat – lasst uns Akte der Re-Kommunikation begehen. Das betrifft die Kommunikationsverweigerung Leos gegen Luther „und seinen Anhang“ (den es bis heute zahlreich gibt in Varianten). Das betrifft auch die Luthers, die er gegen den „Papst und seine Jünger“, nicht nur in der Person Leos oder des Clemens, ausgesprochen hat. Exkommunikationen wurden mit allem Negativpomp begangen, wie man es bei Jan Hus erlebt hatte und nun gegen Luther (nicht freilich in Sachsen, da war der Kurfürst vor), wobei heilige Zeichen wie Kerzen zu Boden geworfen und zertrampelt werden mussten. Lasst uns solche Kerzen wieder erheben, zum Altar tragen und das Licht entzünden, schlägt die hierfür erarbeitete Versöhnungsliturgie für den 3. Januar 2021 und das folgende „Ökumenische Jahr“ vor. Den Worten der Verurteilung stellt die Worte der Analysen,die ins Bedauern münden, entgegen und verkündet das Evangelium des noch weihnachtlichen Tages. Dem Kontaktverbot stellt die Umarmung und den heiligen Kuss entgegen, dem Fluch den Segen. Und angesichts der Löwener, Lütticher, Kölner und Wittenberger Bücher-Verbrennungen oder ihrer Indizierungen erinnert Euch an Jan Hus‘ Aufruf, gegen die Verbrennung von Wyclifs Werken in Prag gerichtet, „de non comburendis, sed legendis libris“ (et analysandis, darf hinzugefügt werden, gerade wo es um das kanonische Recht geht, damals wie heute). Und auch der protestantisch lieb gewordenen Simplifizierung, der Papst sei der Antichrist – wir ließen es in unseren Bekenntnis-Büchern stehen, obgleich wir selbst längst anderswo stehen – muss der Abschied gegeben werden.
Die Überfälligkeit offizieller Schritte – Modelle
Sich noch einmal vergewissern, dass es wirklich an der Zeit ist, dieses Böse hinter sich zu lassen (s. Eph. 5, 16), dazu dient, über die Feststellungen der Erklärung hinaus, die Reihe der speziell hierzu erarbeiteten und zusammengestellten Beiträge in der vorgesehenen Begleit-Publikation „Verdammt in alle Ewigkeit ?“ Und ebenso aufzuzeigen, dass es bedeutsame Modelle hierzu gibt. Wer sich die Vollmacht der Exkommunikation anderer vom Heil erteilt, muß sich selber in den Riss stellen – das wird an des Apostel Paulus Beispiel erörtert (G. Peters). Die Beiträge gehen Fragen nach etwa wie gründlich „katholisch“ Luther war, wie lange und inwiefern er „einen Katholizismus, der nicht katholisch war“ (J. Lortz, J. Brosseder) in sich niederrang, und was ihn dann gleichwohl zu einem neuen Denken führte (Ch. Link); wie sich die Ereignisse von 1518 – 1520 entwickelten (H.- G. Link); wie sich der Wormser Zusammenstoß 1521 ereignete, übrigens nicht direkt mit dem Papst sondern dem Kaiser (samt gerade daraus ableitbaren Fragen bis heute): gleichsam zwei Schnellzüge im senkrechten Aufprall aufeinander (J. Wohlmuth), dem freilich frühere Aufpralle vorausgegangen waren wie nicht nur mit Hus (M. Richter). Und es werden die Nuancen von Luthers Papstkritik erörtert (H.- G. Link). Umgekehrt zeigen Zusammenstellungen der relevanten Selbst-Korrekturen der Kirchen in allen einschlägigen Fragen durch die Konsens- und Konvergenz-Dokumente der vergangenen Jahrzehnte die Überfälligkeit weiterer offizieller Schritte auf.
Als vorrangiges Modell des Vorgehens wird in der Erklärung in Erinnerung gerufen, was man an Formulierungen fand, das Geschehen von 1054 seiner Unheilswirkung zu entäussern, als man in Rom und Konstantinopel am vorletzten Tag des II. Vatikanischen Konzils erklärte, dass man, was immer in diesen „verwirrten Zeiten“ geschehen sei – und man könne „ nicht so tun, als sei nichts geschehen“ – auch in „neuem Licht sehen könne“ und es daher „aus dem Gedächtnis der Kirche“ nehmen, es „dem Vergessen anheimstellen“ wolle. Obgleich die Altenberger Erklärung sich bewusst ist, dass die einander Gegenüberstehenden sich in nicht vergleichbarem Status befanden, wagt sie die Parallelisierung. Sie meint, dies im Blick auf die auch damals „verwirrten Zeiten“, mehr noch auf die Folgen wagen zu müssen. Und sie wagt davon auszugehen, dass eine analoge grundlegende Befriedung des Verhältnisses nicht nur wünschenswert, sondern möglich sei.
Dazu, dass Analoges möglich sei, wird in der Publikation auf die nicht weniger erstaunliche Versöhnungsgeschichte verwiesen, die sich seit dem II. Vaticanum im Verhältnis zu Jan Hus und den aus der hus-itischen Bewegung entstandenen Kirchen ereignet hat – in aktiver Mitwirkung durch die Päpste. Was sich hier schon ereignet hat und nun für das Verhältnis zur lutherischen bzw. gesamten Reformation in der Westkirche, wie bereits angebahnt, angemahnt wird hin zur Besiegelung der Versöhnungsschritte und was wiederum nur in aktiver Mitwirkung des Papstamtes möglich ist, weist auf Zusammenhänge hin, die dessen mögliche neue Bedeutung in der Weltökumene ebenfalls „in neuem Licht“ aufscheinen lassen. Die Debatte hierzu greift ein weiter Beitrag auf (D. Sattler). Und ein Beitrag (J. Wohlmuth) greift das perspektivisch alles Christentum erst recht herausfordernde Thema Glaubenzeugnis angesichts von Staatsmacht auf: Beglaubigung – nur noch wie wie Jesus vor Pilatus.
Bereitschaft zum Mentalitätswandel erbeten
Sehr klug wird in den Papieren zum Versöhnungsakt in der Konzilsaula zu Rom am 7. Dezember 1965 darauf hingewiesen, dass Versöhnung in der Rezeption durch die Kirche in allen Dimensionen der gläubigen Gemeinschaft ihre Wirklichkeit erhält. Repräsentanten und Leitende können, ja müssen sie, durch neue Einsicht ermächtigt, freigeben und ermutigen, nicht aber ersetzen, wie fehlgeschlagene Unionen belegen.
Jede Kirche wird – auf der Leitungsebene wie in den Gemeinden – neue, als geistgewirkt erfahrene Einsichten in die Notwendigkeiten von Selbstkorrektur, Blickerweiterung und Zukunftsorientierung mit der eigenen Tradition von Frömmigkeit und Lehre zu vereinbaren lernen – mit welchen Strategien immer man sich in der Lage sieht, neue Sichtweisen zu vermitteln und umzusetzen. Sieht der Protestant hierbei erhebliche Schwierigkeiten auf der römisch-katholischen Seite, wie er sie zu kennen meint oder einzuschätzen beliebt (wobei er sich von deren Insidern leicht belehren lassen könntexii), so pflegt er seinerseits selten die Hemmnisse zu beachten, die in der eigenen möglicherweise allzu provinziellen Mentalität gegründet sind, die nicht weniger zur Selbstbehinderung beizutragen vermögen als für sakrosankt gehaltene verrechtlichte Strukturen. Wird sich die Überwindung des Stolpersteins Bannbulle gegen Luther und seinen Anhang als vielleicht auch kirchendiplomatisches Kunststück im Blick auf letztere erweisen, so mag der Prüfstein für erstere das vielleicht laute, vielleicht aber nur stille Seufzen sein, eines so bequemen Schibboleths eines Papstes als immerwährenden Antichrists verlustig zu gehen.
Überall möge die Leidenschaft zu spüren sein, sich heute im Reichtum der ganzen Christentumsgeschichte verankert zu wissen und für die gemeinsame Zukunft vorauszudenken – im Alltag des persönlichen Lebens, im Gemeindeleben, in der theologischen Reflexion und der Arbeit der Fakultäten und Kirchenleitungen. Muss jeder nur für sich selber, für seinen Kirchen-Bereich denken ? Nein. Was immer noch weithin üblich ist, darf „eigentlich“ gar nicht sein.
Den Weg begehen zu einer versöhnten Christenheit des dritten Millenniums
So gilt es 2021 zu nutzen, unumgängliche Aufräumarbeiten in der Westkirche voranzubringen. Ist sie doch unhintergehbar verpflichtet, zur Befriedung und Erneuerung der Christenheit insgesamt beizutragen, „damit die Welt glaube“. Denn die beiden grossen Flügel der Westkirche, des einstmals „lateinischen“ Christentums, haben die Moderne der „westlichen“ und sich weltweit ausbreitenden Kultur mit ihren Gefährdungen wie auch ihren Chancen für die Menschlichkeit wesenhaft mitgeprägt. Sie müssen nun hier auch vorrangig das Christentum vertreten und verteidigen. Dazu haben sie je große Gaben einzubringen. Die müssen sie aber miteinander versöhnen, damit sie für alle fruchtbar werden können.
Das „ökumenische Jahr“ und der erneute evangelisch-katholische Kirchentag in Deutschland geben weitere Gelegenheit zur Einübung der neuen friedlichen Selbstverständlichkeiten und dazu, alteingeübte Reflexe abflauen zu lassen. Dabei wird, die „Arbeitsgemeinschaft (aller) christlicher Kirchen“ (ACK) ist es ja, die das „ökumenische Jahr“ ausgerufen hat, in Erinnerung gerufen, dass evangelisch-katholische Flurbereinigungen nur, wenn auch unverzichtbare, Bausteine sind für den Weg zu einer versöhnten Christenheit im dritten Millennium. Der Weltrat der Kirchen öffnet dafür mit seiner nächsten Vollversammlung die universale Dimension.
Heute geht es um das Miteinander weltweiter Gemeinschaften, die sich mit gemeinsamen Grundüberzeugungen aufgrund diskutierbarer, historisch wie aktuell begründbarer Unterschiede konfessionell definieren, dazu unübersichtlich viele divergierende charismatische Strömungen. Und doch können alle nicht anders als erkennen, dass sie nur Teilkirchen sein können. Welche Gestalt aber kann eine neu zu findende weltweite Gemeinschaft der Kirchen haben, in die alle, die „den Namen Christi tragen“, ihre Gaben einzubringen haben? Wie eine gemeinsame Stimme finden?xiii Daran ist allseits in Demut und mit Freimut weiterzuarbeiten. Es kann nur gelingen, wenn die neuralgischen Zäsuren ihrer zweitausendjährigen Geschichte geheilt werden – um Unheilsfolgen zu wandeln in geistliche Aufbruchschancen.
Pfarrer Dr. Manfred Richter, Berlin
- Vgl. zu ihm und zu dem schon durch seine Errichtung um die erste Millenniumswende – noch vor 1054 – symbolisch hoch relevanten Ort Josef Nolte, Wer war Bernward von Hildesheim wirklich? In: Hartmut Reichardt (Hg.), Der Michaelishügel. 1015-2015. Hildesheim 2015, S. 46-61
- § 43 in Harding Meyer u. a. (Hg.), Dokumente wachsender Übereinstimmung Bd. 3, S. 430)
- … die Kirchen der Reformation seien nicht Kirche im „eigentlichen“ Sinn (in „Dominus Jesus“, August 2000)
- Als Zisterzienserkloster im 12. Jh. begründet wurde er nach Zerstörungen und Wiederherstellung im 19. Jh. seit 1857 in früh-ökumenischer Stimmung durch König Friedrich Wilhelm IV. zur Simultankirche bestimmt – sie harrt noch ihrer weiteren Entwicklung als ökumenisches Zentrum gemäß Vorschlägen von H..-G. Link
- H.-G. Link (Hg.), Unsere ökumenische Zukunft. Köln 2000
- J. Brosseder und H.-G. Link (Hg.), Neukirchen, 3. Aufl. 2003
- J. Brosseder und J. Track (Hg.), Neukirchen 2010 (Harding Meyer gewidmet)
- H.-G. Link und D. Sölle (Hg.), Neukirchen und Göttingen, 2017
- Erstbekanntmachung in epd-west 31. 5. 2020, Dokumentation in kna-Ökumene, Ausgabe Pfingsten Juni 2020
- H.-G. Link und J. Wohlmuth (Hg.), Göttingen und Mainz, 2020 (in Vorbereitung)
- Muss nicht hierzu vorrangig gearbeitet werden in unserer Kirchengeschichtsbetrachtung, wie es uns die französische Historikerschule der Annales nahelegt – auch im Blick auf die „nicht-theologischen“ Faktoren?
- Es ei nur auf die derzeitige Debatte um das I. Vaticanum und seine verschärfende Auslegung in Ökumenische Rundschau, Herderkorrespondenz, Stimmen der Zeit, zeitzeichen u. a. verwiesen.
- Eine Anregung dazu findet sich in M. Richter, „Oh sancta simplicitas!“ Ein Essay zum Ökumenismus. Münster 2. Aufl. 2018, S. 412ff. und S. 423ff.