Zur 13. Vollversammlung des Lutherischen Weltbundes in Krakau
Hans-Georg Link
Vizepräsidentin Bischöfin Kristina Kühnbaum-Schmidt, Schwerin und Präsident Bischof Henrik Stubkjaer/Viborg, Dk
mit Dank und Hoffnung
I. Krakau – der gastfreundliche Ort der Vollversammlung
Wenn man im Turm der tausendjährigen Krönungskathedrale der polnischen Könige auf dem Wawelhügel oberhalb der Weichsel die zahllosen Holzstufen zur „Sigismund-Glocke“ aus dem Jahr 1520 – vergleichbar dem „Decke Pitter“ im Kölner Dom – erklommen hat, wird man mit einem eindrucksvollen Ausblick auf das „Herz Polens“, wie die ehemalige Hauptstadt Krakau auch genannt wird, belohnt. Auf dem größten mittelalterlichen Marktplatz Europas breiten sich vor dem Auge des Betrachters die weltberühmten Tuchhallen aus dem 16. Jahrhundert aus, die von der großen wirtschaftlichen Bedeutung der heute eineinhalb Millionen Menschen umfassenden Stadt aus dem Jahr 965 an der Kreuzung zweier europäischer Handelswege Zeugnis geben. Neben ihnen ragt der einsame Rathausturm aus dem 13. Jahrhundert gen Himmel, der beim Abriss des verfallenen Rathauses Anfang des 19. Jahrhunderts stehen gelassen worden ist. Im Hintergrund erheben sich die beiden ungleich hohen Türme der mittelalterlichen Marienkirche, von deren höherem Turm zu jeder vollen Stunde von einem leibhaftigen Trompeter ein Signal mit abruptem Ende in alle vier Himmelsrichtungen geblasen wird. Die Krakauer Altstadt wird von dem „Königsweg“ durchzogen, auf dem die polnischen Könige vom Florianstor im Norden über den Hauptmarkt zu ihrer Krönung in der Stanislaus-Kathedrale auf dem Wawel im Süden hoch zu Ross daherritten.
Auf der anderen Seite der Weichsel erhebt sich schräg gegenüber am Grunwald-Platz, der an den Sieg der Polen über die Streitkräfte des Deutschen Ordens im Jahr 1410 erinnert, das hochmoderne Internationale Kongresszentrum (ICE), in dem die gesamte Vollversammlung des Lutherischen Weltbundes (LWB) stattfand. Sein dreistöckiges Foyer mit weißen Fußböden und Treppen weitet den Blick durch eine riesige Glaswand hindurch auf die Weichsel mit zahlreichen Schiffen, auf die Klosterkirche der „Pauliner auf dem Felsen“ („Skalka“) unmittelbar gegenüber mit ihrer Krypta als Nationalpantheon sowie auf die ganze Wawel-Anlage. Die meisten der rund 1000 Teilnehmenden an der Konferenz waren etwas außerhalb in verschiedenen Wolkenkratzern auf dem Campus der Akademie für Gruben und Hütten (AGH) untergebracht; mein Zimmer lag beispielsweise im 13. Stock von Haus Babilon.
Heute zählt Krakau mit seinen Theatern, der Philharmonie und Krzystof Penderecki (2020+, Lukas-Passion!), den bunten Patrizierhäusern, den zahlreichen Kunstgalerien und Cafés, vor allem mit seiner gastfreundlichen Atmosphäre zu den historisch attraktivsten Städten Europas. Seine Altstadt wurde 1978 von der UNESCO zum Weltkulturerbe erklärt. Vor einigen Jahren erhielt Krakau sogar den Gourmet-Preis als Weltstadt des besten Geschmacks.
Die Erzdiözese Krakau reicht bis in das Jahr 1000 zurück, verfügt also über eine mehr als tausendjährige Tradition. Die Krakauer Erzbischöfe haben oft eine wichtigere Rolle gespielt als die polnischen Könige, insbesondere während der 123 Jahre, als Polen von der politischen Landkarte Europas verschwand (1795-1918). Der ehemalige Krakauer Erzbischof Karol Woityla hat während seines langen Pontifikats als Papst Johannes Paul II. (1978-2005) erheblich zum heutigen polnischen Selbstbewusstsein und zur Überwindung des Kommunismus in Osteuropa beigetragen. Seit er im Jahr 2014 heilig gesprochen worden ist, ziert sein Bild viele Altäre und Kirchen. Krakau ist nach wie vor das katholische Zentrum Polens. Was hier kirchlich und ökumenisch geschieht oder nicht geschieht, hat Auswirkungen auf das ganze Land, womöglich auch darüber hinaus.
II. Der Gastgeber: die Evangelisch-Augsburgische Kirche in Polen
Sie ist eine Minderheitenkirche mit gut 60.000 Mitgliedern und zählt zu den Gründungsmitgliedern des LWB. Es ist, wie man heute sagt, schier unfassbar, dass eine zahlenmäßig derart kleine Kirche in der Lage war, eine einwöchige Weltkonferenz mit an die tausend Teilnehmenden aus allen Erdteilen vorzubereiten und durchzuführen. Das ist ihr in bewundernswerter Weise gelungen. Die Botschaft und die an letzter Stelle verabschiedete Erklärung der Konferenz „Expression of Gratitude“ bedanken sich daher auch an erster Stelle bei der Evangelisch-Augsburgischen Kirche Polens und ihrem Leitenden Bischof Jerzy Samiec in Warschau für diese Leistung und ihre großartige Gastfreundschaft. Die Erklärung merkt mit Recht an, dass keine Kirche zu klein ist, um nicht einen wesentlichen Beitrag für die Weltgemeinschaft der Evangelisch-lutherischen Kirchen beizusteuern.
Am Abend des Eröffnungstages haben Bischof Samiec und die stellvertretende Bürgermeisterin von Krakau sämtliche Teilnehmende zu einem fulminanten Begrüßungs-Empfang in ein ehemaliges Straßenbahn-Depot im jüdischen Stadtteil Kasimierz eingeladen. Man sitzt in langen Reihen dicht gedrängt an ebenso langen üppig gedeckten Tischen, von Kerzen erleuchtet, mit Blumen geschmückt, in angeregte Atmosphäre beieinander. Es gibt Reden von Bischof Samiec und Generalsekretärin Anne Burkhardt, ein wunderbarer polnischer gemischter Chor singt mehrfach. Zum polnischen Essen vom Buffet werden je nach Wunsch Wasser, Wein und Bier angeboten. Beim nicht enden wollenden Halleluja-Singen am Ende des Abends geraten die Beteiligten erstmals in lautstarke Ekstase.
Für die Weltkonferenz am wichtigsten war an jenem Abend ein Film über die Geschichte des evangelischen Lebens in Polen. Erste Einflüsse der Reformation in Deutschland gelangen bereits in den 1520er Jahren nach Niederschlesien in das Gebiet um Teschen, das bis zum heutigen Tag das größte Schwergewicht des evangelischen Lebens in Polen darstellt. Das lutherisch geprägte Königsberg hat Auswirkungen auf den nördlichen Landesteil, während der südliche von süddeutschen und schweizerischen Einflüssen geprägt wird. Während des „Goldenen Zeitalters“ zu Beginn der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts erreicht die reformatorische Bewegung in Polen ihre Blütezeit. Der polnische Reformator Johannes a Lasco – geboren 1499 in Lask bei Warschau, nach Aufenthalten in Emden/Ostfriesland, London und den Niederlanden ab 1557 wieder in Polen – bemüht sich um die Zusammenführung der verschiedenen evangelischen Strömungen. 1570 kommt es in Sandomir zu einer Verständigung zwischen Lutheranern und Reformierten, die ihre unterschiedlichen Sichtweisen der Sakramente und der Verkündigung gegenseitig tolerieren und gelten lassen. Drei Jahre später verabschiedet 1573 der polnische Adel die „Konföderation von Warschau“, die Religionsfrieden zwischen katholischer und reformatorischer Bewegung in Polen garantieren soll. Sie ist ein einmaliges Zeugnis der Religionsfreiheit im Europa des 16. Jahrhunderts. Allerdings hat sie schlimme Auswüchse der Gegenreformation im 17. und 18. Jahrhundert nicht verhindern können.
In der dunkelsten Zeit des polnischen Protestantismus während der deutschen Besatzung Polens ist Bischof Juliusz Bursche 1940 in das Konzentrationslager Sachsenhausen verschleppt worden und 1942 im Berliner Gefängnis Moabit unter ungeklärten Umständen gestorben. Heute wird das Gedenken an Bischof Bursche auf Glasbildern in der Breslauer lutherischen St. Christophori-Kirche neben Maximilian Kolbe, Dietrich Bonhoeffer und Edith Stein wachgehalten.
Wie in der schönen Broschüre des LWB „Willkommen in Polen“ zu lesen ist, erfüllt sich „nach der politischen Wende 1989… der Traum der Reformatorinnen und Reformatoren aus dem 16. Jahrhundert von einer vollständigen Autonomie und Selbstbestimmung für protestantische Gläubige in Polen“ (S. 16), dessen Grundlage ein 1994 im Sejm verabschiedetes Gesetz ist. –
Zwei Beispiele polnischer Gastfreundschaft und Geschichtsverbundenheit haben wir miterlebt. Am Sonntag, 17. September, waren alle Teilnehmenden an der Konferenz in lutherische Gemeinden der Krakauer Umgebung eingeladen, um mit ihnen Gottesdienst zu feiern und protestantische Gastfreundschaft in Polen kennen zu lernen. Wir erlebten mit unserer Reisegruppe in Skoczow im westlich gelegenen Teschener Land einen traditionsbewussten Festgottesdienst mit Trachtengruppen, verschiedenen Chören, Kindern und Jugendlichen, an dem mehrere hundert Menschen teilnahmen und der uns das Herz aufgehen ließ. Nachmittags besuchten wir sowohl den polnischen als auch den tschechischen Teil der Regionalstadt Teschen (Cieszyn), ohne die geringste Kontrolle. Tief beeindruckt von der Schönheit und Gastfreundschaft im Teschener Land kehrten wir nach Krakau zurück.
Vor und nach der Konferenz in Krakau haben Interessierte Teilnehmende in Schweidnitz (Swidnice) eine der drei Friedenskirchen besucht, die nach dem Westfälischen Frieden 1648 nur aus Holz, ohne Turm und die Verwendung von Nägeln für etwa 2000 Menschen innerhalb eines Jahres errichtet werden durften. Die heutige Gemeinde feiert dort sonntags ihre Gottesdienste mit unter hundert Teilnehmenden, aber die Friedenskirche wird täglich zahlreich aufgesucht. Der Schweidnitzer Pfarrer, Bischof Waldemar Pytel, hat es verstanden, die verschiedenen Häuser rund um die Kirche zurückzugewinnen, zu erneuern und das ganze Areal zu einem, wie er sich ausdrückte, „evangelischen Vatikan“ in katholischer Umgebung auszubauen. Ähnlich wie die Waldenser haben sich die Mitglieder der Evangelisch-lutherischen Kirche in Polen jahrhundertelang gegenüber einer erdrückenden katholischen Mehrheit behaupten müssen und eine selbstbewusste, aktive und soziale Form evangelischen Christseins entwickelt. –
Der Polnische Ökumenische Rat (PÖR) ist bereits 1946 von 12 evangelischen, altkatholischen und orthodoxen Kirchen gegründet worden. Die römisch-katholische Kirche gehört ihm bis heute (noch) nicht an. Aber es gibt seit 1974 eine „Gemischte Kommission des PÖR und der Episkopatkommission für Ökumene“. Sie hat inzwischen eine Erklärung zur „gegenseitigen Anerkennung der jeweiligen Taufe, Appelle zur Bewahrung der Schöpfung, der Achtung und Feier des Sonntags und eine Botschaft zur Flüchtlingsthematik“ veröffentlicht (S. 37). In Warschau gibt es eine „Ökumenische Akademie“ und eine „Ökumenische Universität des Dritten Lebensalters“. An der jährlichen Gebetswoche für die Einheit der Christen im Januar beteiligen sich so gut wie alle Kirchen.
Angesichts dieser positiven ökumenischen Entwicklung in Polen ist es umso erstaunlicher, dass der jetzige Erzbischof von Krakau kein Grußwort an die lutherische Versammlung gerichtet hat und auch kein offizieller Vertreter der örtlichen römisch-katholischen Kirche überhaupt teilgenommen hat. Ebenso fällt auf, dass Teilnehmende der lutherischen Weltversammlung zwar im jüdischen Viertel und in Auschwitz offizielle Besuche gemacht haben (s. u.), aber weder die Kathedrale in der unmittelbaren Nachbarschaft noch irgend eine andere der über hundert katholischen Kirchen in Krakau offiziell betreten haben.
III. Tomás Halík: Eine neue Reformation!
Es war eine kluge und mutige Entscheidung der Verantwortlichen, den Prager Reformkatholiken Tomás Halík einzuladen, den Hauptvortrag, den Keynote speech der Konferenz zu übernehmen. Halík ist während der Zeit der russischen Besatzung in Tschechien seit 1968 in der damaligen Untergrundkirche zum Priester geweiht worden. Nach der Wende war er Berater des ersten tschechischen Präsidenten Vaclav Havel. Heute lehrt er als Professor für Soziologie und Religionswissenschaften an der Prager Karls-Universität und ist zugleich als Pfarrer der Akademischen Gemeinde Prag tätig. 2014 erhielt er den Templeton-Preis, den „Nobelpreis für Religion“. Seine Zeitansage von 2021 „Der Nachmittag des Christentums“ hat weite Beachtung gefunden. Ich versuche, seinen Vortrag (1) unter 7 Gesichtspunkten zusammenzufassen:
- Sein erster Satz lautet: „Das Christentum steht an der Schwelle einer neuen Reformation.“Im 16. Jahrhundert haben die beiden „parallelen“ lutherischen und katholischen Reformationen das Christentum erneuert, aber auch gespalten, weil sie nie zueinander gefunden haben.
- Auch das 20. Jahrhundert haben zwei reformatorische Bewegungen geprägt: die weltweite Ausbreitung des Pfingstchristentums und das Zweite Vatikanische Konzil. Sie sind die Basis-Elemente der heute erforderlichen Reformation, die das Christentum von einem konfessionalistisch geschlossenen Katholizismus zu einer weltweit offenen ökumenischen Katholizität transformiert.
- Der Geist, der weht, wo er will, macht in einem ersten Schritt die Kirchen zu einem effektiven Zeichen der Einheit, das darin besteht, als Instrumente der Versöhnung und für die Heilung der Wunden unserer Welt zu wirken. Diese Einheit ist jedoch kein Selbstzweck für sich, sondern der Vorgeschmack einer Verwandlung der ganzen Menschheit und der gesamten Schöpfung.
- Die Mystiker der katholischen Reformation Theresa von Avila, Johannes vom Kreuz und Ignatius von Loyola weisen zusammen mit Meister Eckhart, Martin Luther und Dietrich Bonhoeffer den Weg zur „Erlösung im Glauben“, die in unserer persönlichen Beziehung zu Christus und in Christi Selbstschenkung an mich (pro me) ihr Zentrum hat. „Jan Hus ist Teil meiner Identität“, und: „Ich kann ohne Martin Luther nicht katholisch sein“, bemerkte Halík in der Pressekonferenz.
- Luthers prophetische und paradoxe Kreuzestheologie muss heute erneuert und vertieft werden. Es geht um das andauernde Geheimnis des Kreuzes, eine passio continua, die an den Wunden dieser Welt teilhat, sie annimmt und zu heilen versucht. „Ein verwundeter Christus, eine verwundete Kirche und ein verwundeter Glaube bringen die Gabe des Geistes, des Friedens und der Vergebung in die Welt.“ Zugleich gilt: „Das Kreuz ist der Weg zur Auferstehung.“ Es geht auch um einen beständigen Prozess der Auferstehung: resurrectio continua. Der Auferstandene kommt in verborgener und verwandelter Gestalt zu uns. Wir erkennen ihn wie die Emmausjünger nur bei und nach dem Brechen des Brotes.
- Für die Kirche bedeutet die „neue Reformation“ den Auszug aus einer Exkulturation, die sich darin zeigt, dass Glaubwürdigkeit, Klarheit und Fruchtbarkeit verloren gegangen sind, weil die Kirche ein unverändertes Samenkorn geworden ist, das nicht sterben kann und nutzlos vergeht. Die fällige Inkulturation besteht in einer kreativen und fruchtbaren Inkarnation des Glaubens in die lebendige Kultur, die Denk- und Lebensweise der Menschen. Eine mit dem Staat verheiratete Kirche beraubt sich ihrer eigenen Zukunft. Statt billiger Anpassung geht es um eine Kultur der Unterscheidung der Geister, zwischen „Zeitgeist“ und „Zeichen der Zeit“.
- Wie im 17. Jahrhundert der Theologe und Bischof der Böhmischen Brüderunität Johann Amos Comenius zu einem gemeinsamen Weg des gegenseitigen Lernens, Teilens und Verantwortung-Übernehmens eingeladen hat, so sucht heute der Bischof von Rom mit seiner Einladung zum synodalen Weg nach der Einheit der ganzen Menschheitsfamilie. „Ich bin überzeugt, dass es der mögliche Beginn einer neuen Reformation des Christentums ist, die sowohl auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil als auch auf der pfingstlichen Erneuerung der Weltchristenheit aufbaut.“ In der Pressekonferenz fügte Halík hinzu: „Kirchen der Hoffnung hören nach einer Nacht mit leeren Netzen auf die Stimme Jesu: Versuche es noch einmal und gehe in die Tiefe.“ Er schloss mit dem Wunsch an die lutherische Weltversammlung, „ein überzeugendes Zeichen der Hoffnung zu werden, dass die Nacht vorübergeht und der Tag anbricht“. –
Der lang anhaltende Beifall ließ erkennen, dass der Katholik Tomás Halík offenbar einen Nerv der lutherischen Weltversammlung getroffen hatte. Wie hat sie auf seinen großen Entwurf reagiert? Als erste antwortete die nordamerikanische Professorin Kathryn Lohre mit selbstkritischen Fragen: Sind wir bereit, die Wunden dieser Welt anzugehen? Macht sich die lutherische Weltgemeinschaft der Sünde der Verkrümmung in sich selbst (incurvatio in se– ipsum) schuldig, die Luther als den eigentlichen Kern aller Sünden bezeichnet hat? Ist die lutherische Weltfamilie in der Lage, füreinander und für andere wirklich Verantwortung zu übernehmen und sich einer neuen Reformation zu öffnen? Auch der tansanischen Bischof Frederick Shoo stellte mehr Fragen als Antworten in den Raum: Entsprechen unsere Strukturen und Systeme noch den Nöten der Menschen? Antworten unsere lutherischen Kirchen auf die Herausforderungen unserer Zeit? Und was sind die Zeichen der Zeit, auf die wir zu antworten haben?
Aus den beiden Stellungnahmen wurde deutlich, dass sich die lutherische Weltgemeinschaft von Halíks Vision einer neuen Reformation herausgefordert und auch überfordert sieht. Das ist durchaus verständlich. Mehr ist zu bedauern, dass Halíks Thesen und Perspektiven nicht weiter im Plenum diskutiert wurden und im weiteren Verlauf der Konferenz keine erkennbare Rolle gespielt haben. Es folgten in den nächsten Tagen zu viele weitere Vorträge. Weniger wäre mehr gewesen!
IV. Das Thema: Ein Leib, ein Geist, eine Hoffnung
Es gehört zu den konzeptionellen Stärken der Konferenz, dass sie die drei Aspekte des aus dem Epheserbrief (4,4) stammenden Themas in die Mitte der Tage gestellt hat.: Freitag, 15. September, stand unter dem Thema: Ein Leib; Samstag, 16. September: Ein Geist; und Montag, 18. September: Eine Hoffnung. Der jeweilige Aspekt wurde zunächst im ausführlichen Morgengebet mit Bibelauslegung und kurzen Gesprächsphasen erörtert. Es folgte dazu im thematischen Plenum am Vormittag jeweils ein Vortrag mit zwei anschließenden Stellungnahmen. Anstelle von Plenardiskussion, die aus Zeitmangel so gut wie nicht zustande kamen, tauschte man sich diesmal in kleinen Gruppen – village groups genannt – über das Gehörte aus und konnte daraus Beiträge für die Botschaft der Vollversammlung an den Redaktionsausschuss zurückmelden. Die Botschaft ist nach einer Präambel und vor dem kurzen Schluss „Ausgesandt in die Welt“ in die drei Hauptteile gegliedert: Ein Leib – ein Geist – eine Hoffnung. Das Abendgebet griff den jeweiligen Aspekt mit einem Psalm, Lied oder Gebet noch einmal auf.
Selten ist das Thema einer Weltversammlung so ausführlich und verschiedenartig in die Gestaltung der Tage einbezogen worden wie hier in Krakau. So standen spirituelle, theologische und persönliche Themen statt organisatorischer und politischer Fragen im Vordergrund der Tagung. Das hat – ähnlich wie bei der Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen in Karlsruhe vor einem Jahr – zu dem guten Geist der Tage in Krakau beigetragen.
- Ein Leib
Anhand des Johannesprologs (1,1-14) erläuterte Professor Kenneth Tsang aus Hongkong erfreulich konkret die „Fleischwertung“ Gottes: Gott wird zu einem verwundbaren und leidenden Körper (body), der menschliche Schwachheit und Leiden versteht und mitträgt. In der Eucharistie teilen alle Christen das eine lebendige Brot des auferstandenen Christus, um zu einem Leib Christi zu werden. Gottes Kinder weiten ihre Beziehung von einer individuellen zur ganzen Kirche und von ihr zur ganzen Schöpfung. In der von verschiedenen Teilnehmenden vorgetragenen Antwort auf die Bibelarbeit heißt es: „Und das Wort ward“: ein Finger, eine Hand, ein Fuß, ein Knie, hoffnungsvoll leuchtende Augen, ein Leib…
In ihrem Hauptvortrag legte die indonesische Neutestamentlerin Benny Sinaga aus der Protestantisch-Christlichen Batak-Kirche am Toba-See in Nord-Sumatra den Akzent auf die paulinische Leib-Theologie: Der eine Leib Christi überschreitet die ethnischen Grenzen von Juden und Griechen, die sozialen von Herren und Sklaven und die patriarchalen von Mann und Frau (mit Galater 3,28). Sie erntete viel Beifall für ihr Plädoyer zur Frauenordination, die bereits 1989 in der Batak-Kirche eingeführt wurde und vergangenes Jahr in Polen mit der Ordination der ersten 9 Frauen begonnen hat. Mit Martin Luthers Erläuterung zum Dritten Glaubensartikel unterstrich sie, dass der Leib Christi „die ganze Christenheit auf Erden“ umfasst, also nur ökumenisch gedacht und verwirklicht werden kann, frei von Gewalt und Vorherrschaft.
Ihre Antwortpartnerin, die erste schwarze Bischöfin in Südafrika, Naladzani Josephine Sikhwari, nahm die paulinische Körpersprache auf, die alle Getauften als gleichberechtigte Glieder des Leibes Christi umfasst: „Macht, dass sie sich willkommen fühlen!“ Professor Bernd Oberdorfer aus Augsburg betonte im Blick auf die verletzliche Haut des Leibes Christi die notwendige Solidarität untereinander und verwies dabei selbstkritisch auf Luthers Äußerung, dass „die Kirche die größte Sünderin ist“. Er fragte angesichts des christlichen Antijudaismus nach dem „Leib Gottes“, aus dem Christen die Juden ausgeschlossen haben. Beide Gesprächspartner verdeutlichten die Tragweite und Herausforderungen des Leib-Bildes innerhalb und außerhalb der lutherischen Weltfamilie.
Was hat die Botschaft von alledem aufgenommen? Sie ist ausführlich in der Beschreibung des in vieler Hinsicht gebrochenen Leibes Christi in einer durch Klimakatastrophen, Kriege, Flüchtlinge, Diskriminierung u. a. geschundenen Welt. Sie setzt sich für die Förderung von Frauen und Teilhabe von jungen Menschen sowie von geistig und anderweitig erkrankten Menschen im Leib Christi ein. Erst am Ende kommt sie auf die „Gemeinschaft von Kirchen“ zu sprechen. Hier fordert sie „gegenseitige Rechenschaftspflicht“ nach innen und ökumenisches Engagement nach außen: „Lutherisch zu sein bedeutet, ökumenisch zu sein.“ Sie erwähnt summarisch die „fruchtbaren ökumenischen Dialoge“, aber ohne einen einzigen zu nennen. Sie spricht auch selbstkritisch die „Spannungen in unseren eigenen Kirchen“ an. Von der Verbindung oder gar Gemeinschaft mit der (römisch-) katholischen Kirche ist in diesem ökumenischen Zusammenhang allerdings mit keinem Wort die Rede.
- Ein Geist
Auf lockere Weise erläuterte die Neutestamentlerin Barbara Rossing aus Chicago im Morgengebet Ezechiels Verheißung eines neuen Geistes für das im Babylonischen Exil lebende Volk Israel. Der neue Geist, der Herzen aus Stein in Herzen aus Fleisch verwandelt, wird nach Ezechiel nicht einzelnen Individuen, sondern der Gemeinschaft Israels verheißen. Mit Luther fragte Frau Rossing, aus welcher babylonischen Gefangenschaft wir heute befreit werden müssen. Es geht um die Rückgewinnung eines kühnen Geistes, der Herzen ermutigt zu neuer Energie für das Leben. Barbara Rossing fasste ihre Auslegung mit poetischen Gedanken von Hildegard von Bingen (1098-1179) so zusammen:
„Der Geist von Gott
ist ein Leben, das Leben schenkt,
die Wurzel des Welten-Baums
und Wind in seinen Zweigen.
Sie ist glänzendes Leben,
das allen Lobpreis hervorlockt,
alles aufweckt,
alles zur Auferstehung bringt
– eine Symphonie.“
In dem Hauptvortrag des äthiopischen Präsidenten der Mekane-Yesus-Ausbildungsstätte, Pfarrer Dr. Bruk Ayele, wurde die poetische Theologie von Frau Rossing mit der harten Realität in Äthiopien konfrontiert. Pfarrer Ayele machte deutlich, wie schwierig es in seiner über 12 Millionen zählenden Kirche ist, die aus über 60 verschiedenen ethnischen und sprachlichen Gruppen besteht, den Geist der Einheit und des Lebens zum Zuge zu bringen. Vor wenigen Jahren haben sich zwei Männer, die beide derselben Mekane-Yesus-Kirche, aber unterschiedlichen Volksgruppen angehören, gegenseitig umgebracht. Die ethnischen Konflikte innerhalb der Mekane-Yesus-Kirche sind erheblich größer als die konfessionellen zwischen der lutherischen und orthodoxen Kirche, die in den vergangenen 30 Jahren merklich zurückgegangen sind. Daher sind Gaben des Geistes wie Zusammenarbeiten, Inklusivität, Aufeinander-Hören und intensives Beten hoch geschätzt. Dennoch sind viele lutherische Mitgliedskirchen gespalten und bedürfen dringend das Geistes der Zusammengehörigkeit und des Einsseins.
Die Korreferentin, Bischöfin Izani Bruch, konnte aus ihrem Land Chile kein wesentlich anderes Bild vermitteln. Ihre dortige Kirche leidet unter der Komplizenschaft mit dem Staat und irreführende Theologien verbreiten einen fatalistischen Geist der Determinierung, gegen den man nichts ausrichten könne. Hier geht es um Hoffnung gegen alle Hoffnungslosigkeit auf einen Geist, der einen Prozess der Transformation von Herzen aus Stein in solche aus Fleisch zuwege bringt. Es wäre der Geist, den Jesus in Nazareth verkündet hat, Gottes Geist der Befreiung: „Sie ist der Atem des lebendigen Gottes.“
Die Botschaft der Vollversammlung vom Einen Geist Gottes spricht sich gegenüber irreführenden Theologien wie dem Wohlstands-Evangelium (prosperity Gospel) für eine biblisch verankerte verantwortungsbewusste Theologie aus, die mit inklusiver Sprache inklusive Gemeinschaften fördert und der erneuerten und reformierenden Kraft des einen Geistes Raum schafft. Sie betont, dass Leib und Geist zusammengehören und lutherische Kirchen daher berufen sind, gegen spirituelle und körperliche Unterdrückung ebenso ihre Stimme zu erheben wie Rassismus, Ethnizismus und Ungleichheit der Geschlechter zu bekämpfen.
Man merkt bei diesen Äußerungen, dass das Geist-Thema in der lutherischen Tradition zu lange vernachlässigt worden ist. Die über Jahrhunderte gepflegte Konzentration auf den einzelnen Christen steht dem zur Gemeinschaft zusammenführenden Geist erheblich im Wege. Die meisten lutherischen Kirchen haben wohl noch einen langen Weg vor sich, bis sie zu Erfahrungen des Geistes gelangen, wie sie im Dritten Artikel des Ökumenischen Bekenntnisses von 381 benannt werden.
- Eine Hoffnung
Zu diesem Thema stand im Morgengebet die Erzählung von der Stellung des Sturmes im Mittelpunkt. Der brasilianische Pfarrer Gerson Acker erläuterte mit Berufung auf den Hoffnungstheologen Jürgen Moltmann, dass Hoffnung gerade in Erfahrungen von Verzweiflung und Leiden geboren wird.
Antje Jackelén, die emeritierte Erzbischöfin von Uppsala (ursprünglich aus Herdecke an der Ruhr) begann ihren Hoffnungsvortrag mit der Aufforderung der schwedischen Aktivistin Greta Thunberg: „Ich will, dass ihr in Panik geratet“ – wegen der drohenden Klimakatastrophe. Jackelén setzte dem Luthers Wort entgegen: „Gott hasst beides: Anmaßung und Verzweiflung.“ Und dann setzte sie zum Gegenangriff gegen die 5 vergiftenden P‘s an: Polarisation, Populismus, Protektionismus, Post-Wahrheit (post-truth) und Patriarchat. Sie grenzte die Hoffnung auch von anderen 5 Verhaltensweisen ab: Optimismus, Stoizismus, Apathie, Fatalismus und Utopia. Dann entfaltete sie die christliche Hoffnung ebenfalls unter 5 Gesichtspunkten: Christliche Hoffnung ist: 1. unsere Berufung, 2. eine Kultur der Koexistenz, 3. eine Inkarnation von Morgenröte, die zum Singen anstiftet, 4. eine Zuversicht auf eschatologische Dinge, die man noch nicht sieht wie den 8. Tag der Schöpfung, und 5. eine ekklesiologische Verwandlung von Gesellschaft und Schöpfung durch eine prophetische, diakonische, ethische und theologische Kirche. So setzte die Erzbischöfen Jackelén der Panik die Hoffnung, der Angst die Befreiung entgegen mit einer „ungeduldigen Hoffnung“, die Zorn aushält, Mut beweist und sich in Demut bewährt.
Das war nach dem Vortrag von Tomás Halík zweifellos die zweite inspirierende Rede der Konferenz. Ihr antwortete Bischof Pavlo Shvarts aus der Ukraine mit einem Zeugnis praktischer Hoffnung. Er wandte sich gegen neue säkulare Propheten, die mit der Hölle einer Atomkatastrophe eine neue Apokalypse heraufbeschwören, Angst schüren und in Aggression verwandeln. Ihnen setzte er Luthers These 62 von 1517 entgegen: „Der wahre Schatz der Kirche ist das hochheilige Evangelium von der Herrlichkeit und Gnade Gottes.“ Angesichts des russischen Angriffs auf die Ukraine wird Hoffnung zu einer Frage von Leben und Tod: „Der Tag, an dem wir leben, kann unser letzter sein. Wir sehen das Leiden und die Auferstehung Christi. Hoffnung ist für uns praktisch und überlebenswichtig“, äußerte der Ukrainische Bischof. „Dum spiro spero“, beschloss er seine Rede im Plenum: „Solange ich atme, habe ich Hoffnung“.
Seine Botschaft wurde von Kindern auf dem Podium unterstrichen, die von einem Traum sangen, der zur Wirklichkeit wird. Drei Schritte benannte er in der Pressekonferenz auf dem Weg zum Frieden in der Ukraine: 1. Gewalt zum Stillstand bringen, 2. Sünden öffentlich bekennen, 3. einen Friedensprozess beginnen. Er fragte: „Wie wird am Ende des Krieges in der Ukraine Versöhnung aussehen?“
Mit diesen beeindruckenden Äußerungen und einer der wenigen Podiumsdiskussionen hatte es diesmal aber nicht sein Bewenden: Junge Menschen erschienen plötzlich auf der Bühne und äußerten ihre Zweifel an christlicher Hoffnung: Angesichts des steigenden Meeresspiegels – gibt es da überhaupt noch Hoffnung? Sie forderten zur Beteiligung an einem Marsch auf in unmittelbarem Anschluss an das Plenum. Er führte allerdings nur die weißen Treppen hinunter zum Foyer im Erdgeschoss, wo Jugendliche unter Führung eines Indonesiers das Szepter in die Hand nahmen: „Was brauchen wir jetzt genau? – Klimagerechtigkeit! – (Denn:) Die Schöpfung ist nicht käuflich.“ ( Creation is not for sale.) Das anschließende Gebet der Jugendlichen klang anders als sonst: „Wir schreien zu Dir, Gott..“ Und dann sangen sie sich ihre Hoffnung aus dem Herzen: „Zusammen beten, handeln und rufen wir…Zusammen – Together! – Das ist unsere Hoffnung!“ Hier wurde es das einzige Mal auf der Weltversammlung richtig laut und emotional: Es war die Hoffnung der Jugendlichen auf sich bahnbrechende Gemeinschaft zur Bewältigung der Klima-Krise und zur Verhinderung einer Katastrophe durch Klima- Gerechtigkeit –climate justice! –
In der Pressekonferenz fragte ich Erzbischöfin Jackelén nach konkreter Hoffnung für Lutheraner und Katholiken. In ihrer ausführlichen Antwort erinnerte sie zunächst an die wichtige Veröffentlichung von vor 10 Jahren 2013: „Vom Konflikt zur Gemeinschaft“ , und an die aufkeimende Hoffnung, als Papst Franziskus am Reformationstag 2016 in Lund einen gemeinsamen Gottesdienst mit den Spitzenvertretern des Lutherischen Weltbundes feierte und sie als gastgebende Erzbischöfin ihm anschließend vor Freude um den Hals fiel. Die damals im Eispalast von Malmö unterzeichnete Erklärung der Caritas Internationalis und des Weltdienstes (World Service) des LWB trägt den Titel „ Together in Hope“ – Gemeinsam in Hoffnung, was Papst Franziskus mit „Ökumene der Taten“ übersetzte. Erzbischöfin Jackelén würdigte den diakonischen Fortschritt, den Lutheraner und Katholiken im Blick auf Flüchtlinge, Migranten, Heimat- und Obdachlose inzwischen erreicht haben: „Papst Franziskus hat ein großes Herz für praktische Ökumene.“ Zugleich bedauerte sie den mangelnden Fortschritt in theologischer und spiritueller Hinsicht: „Ich hoffe auf mehr Fortschritt im Blick auf die gegenseitige Anerkennung des Amtes und die Feier der Eucharistie. Es gibt so viel Bedürfnis nach spiritueller Ökumene.“ Schließlich mahnte sie auch die Verbindung von Rechtfertigung und Gerechtigkeit an: „Ich hoffe auf eine kühn handelnde Gerechtigkeit.“ Sie hat im Jahr 2020 auf Schwedisch ein Buch mit dem Titel veröffentlicht: „Ungeduldig in Hoffnung.“
Die Botschaft der Vollversammlung greift diese Richtung auf: „Der Geist Gottes beruft uns, Werkzeuge für Gerechtigkeit, Frieden und Versöhnung zu sein und Wunden innerhalb unserer Kirchen und in unserer gemeinsamen Welt zu heilen. Zugerüstet durch den Heiligen Geist sind wir aufgerufen, Gemeinschaften der Hoffnung zu schaffen… Nicht leere Hoffnung, sondern unerschrockene Hoffnung, die von unserem Glauben an Gott inspiriert ist und der wir auch Taten folgen lassen… Diakonie ist in die Tat umgesetzte Hoffnung.“ Dem ist nur noch hinzuzufügen, dass der Löwenanteil des LWB-Haushaltes dem „Weltdienst“ (World Service) gewidmet ist.
V. Begegnungen zwischen Christen und Juden
Die Programmgestalter von Krakau hatten die ungewöhnliche Entscheidung getroffen, den Nachmittag des 15. September für einen Besuch aller Teilnehmenden im etwa 70 km entfernten Auschwitz-Birkenau (Oswiecim)vorzusehen, wohin sie zahlreiche Busse brachten.
- Vorbereitung
Am Vormittag hatte Professor Bernd Oberdorfer aus Augsburg das Plenum auf den Weg nach Auschwitz theologisch vorbereitet: Es ist nicht einfach anzuerkennen, dass die Verbrechen, die in Auschwitz gegen die Menschheit und Menschlichkeit begangen worden sind, heute auch zum kulturellen Erbe des Christentums gehören. Der Kulturschock dieses Zivilisationsbruches, der sich im so genannten christlichen Europa ereignet hat, sitzt tief und ist noch längst nicht aufgearbeitet. Oberdorfer beklagte den seit Beginn des Christentums aufgetretenen christlichen Antijudaismus, der dazu geführt hat, Juden aus dem „Leib Gottes“ auszuschließen. Er wies ausdrücklich darauf hin, dass der christlich-jüdische Dialog für das Selbstverständnis und Wohlergehen der Kirche unerlässlich ist.
- In Auschwitz-Birkenau (Oswiecim)
Die Teilnehmenden werden in verschiedenen Sprachgruppen durch 2 der 3 Lager geführt: 1. das Stammlager, dass man durch das Tor mit der zynischen Überschrift „Arbeit macht frei“ betritt; 2. das Außenlager Birkenau, in dem zeitweise 100.000 Menschen in Holzbaracken mit dreistöckigen Pritschen gehaust haben; 3. das weiter entfernt liegende Lager Monowitz, bei dem der IG-Farben-Konzern die Buna-Werke errichtet und mit der Zwangsarbeit von bis zu 11.000 Häftlingen betrieben hat. Die äußerst kundige Führerin „Eva“ der deutschen Gruppe erklärt, warum gerade Auschwitz zu dem größten und grausamsten Konzentrationslager ausgebaut worden ist: Es gab dort schon ein Kasernengelände, das von zwei Flüssen begrenzt wird, daher leichter zu kontrollieren war; außerdem war Auschwitz schon vorher ein Eisenbahnknotenpunkt, der den Transport dorthin erleichterte.
Eine erhaltene Gaskammer mit Verbrennungsöfen nebenan sowie davor der Galgen des Lagerkommandanten Rudolf Höß legen noch heute Zeugnis ab für das nationalsozialistische neue Heidentum, das in Auschwitz mehr als eine Million Juden unter unmenschlichen Bedingungen ermordet hat. In Block 11, Kellerzelle 18, in der Maximilian Kolbe seine letzten Lebenstage gefristet hat, steht heute eine große Osterkerze – ein Zeichen des Aushaltens schlimmster Grausamkeiten in der Kraft des Auferstandenen. Draußen vor der „Todeswand“ neben Block 11, wo Häftlinge aus nächster Nähe durch Schüsse in den Hinterkopf getötet wurden, legen Präsident Musa und Generalsekretärin Burkhardt einen großen Strauß roter Rosen nieder. Auf der Schleife steht: „We will not forget“ – Wir werden nicht vergessen.
Im Außenlager Birkenau steht an der Selektionsrampe noch ein Eisenbahn-Waggon, der an die ungezählten Transporte erinnert, die hier endeten und die Menschen entweder sofort in die Gaskammern oder zur Zwangsarbeit führten, die die meisten nur zwei Monate überlebten. Am Ende der Bahnanlagen befindet sich heute ein Mahnmal aus Steinen und Beton, vor dem eine Inschrift in etwa 30 Sprachen, auch auf Hebräisch und Deutsch, auf nebeneinander liegenden Steintafeln angebracht ist: „Dieser Ort soll ein Aufschrei und Mahnung an die Menschheit sein für 1,5 Millionen ermordeter Männer, Frauen und Kinder… Auschwitz-Birkenau 1940 – 1945 Nie wieder“ . Die Teilnehmenden aus Krakau bilden davor Gruppen, die sich im Kreis um Kerzenlaternen stellen, schweigen, beten und singen: Kyrie eleison – Christe eleison – Kyrie eleison.
- Marian Turski zu Besuch
Am nächsten Morgen, dem jüdischen Neujahrstag Rosch Haschana, eröffnet der Jude Marian Turski das Plenum. Man sieht ihm sein Alter von 97 Jahren durchaus an. Er ist Schoah-Überlebender und heute Präsident des Internationalen Auschwitz-Komitees. 1940 wurde er mit seiner Familie im jüdischen Getto Lodz (Lietzmann stadt) inhaftiert und im August 1944 nach Auschwitz-Birkenau deportiert. Er überlebte auch die anschließenden Todesmärsche nach Buchenwald und Theresienstadt.
Statt in die Synagoge zu gehen, spricht er an diesem Morgen zu den Mitgliedern der lutherischen Weltversammlung. Er redet nicht von seiner Vergangenheit, sondern von den gegenwärtigen vier apokalyptischen Reitern, die Krieg, Krankheit, Hunger und Tod über unsere Welt bringen. In der Pressekonferenz fordert der Historiker und frühere Journalist Turski gegen die Angst, die solche Ereignisse auslösen und von Populisten wie der AfD für ihre egoistischen Zwecke ausgenutzt wird, besonders die religiösen Führer auf, die Konflikte zu verringern und mit ihrem Beispiel den Verängstigten zuzurufen: „Habt keine Angst!“ Nach seiner Meinung gehört es zur Spiritualität der polnischen Nation, „unsere Verpflichtung, menschlich zu sein“, in die Tat umzusetzen. Er zitiert ein jüdisches Gedicht zum Thema „Mitgefühl“ (com-passion) für Menschen, Tiere und Pflanzen. „Ohne solches Mitgefühl werden wir zu Dienern des Teufels wie in Auschwitz.“ Es geht um die Umwandlung von Hass in Empathie.
Turski erinnert auch an die jüdische Tradition, sich mit einem in Honig getränkten Apfel ein „gutes und süßes neues Jahr“ zu wünschen. Er wandelt sie ab in eine Wunschbitte um Frieden für die Ukraine und die gesamte Welt. Als Dank erhält Turski mit stehender Ovation den längsten Beifall der gesamten Konferenz. Im Anschluss an die Pressekonferenz umarmt er den äthiopischen Gesprächspartner wie zuvor schon Präsident Musa im Plenum. Als Turski hört, dass ich aus Köln komme, spricht er mich auf Deutsch an, um mich wissen zu lassen, dass er bald nach Köln kommen wird…
- Das Studiendokument: Hoffnung für die Zukunft
An zwei Nachmittagen wurde ein Workshop angeboten, der sich mit dem gerade fertig gestellten „Studiendokument für die Erneuerung Jüdisch-Christlicher Beziehungen – Hoffnung für die Zukunft“ befasst, das vorerst nur in englischer Sprache vorliegt, demnächst aber auch in deutscher Übersetzung zugänglich ist. Eine internationale lutherische Arbeitsgruppe hat zwei Jahre lang für diese Ausarbeitung gebraucht. Sie informiert über die lutherische Auseinandersetzung mit dem Judentum, die bis zur 5. Vollversammlung des LWB in Helsinki 1963 zurückreicht. Sie setzt sich auch mit Wunden seit den Anfängen des Christentums auseinander, die die Beziehung bis heute belasten, und behandelt die gegenwärtigen Hindernisse für Dialog und Begegnung wie den israelisch-palästinensischen Konflikt. Das Dokument ist in informativem und einladendem Stil geschrieben, weder dogmatisch noch belehrend, mehr praktisch und vorschlagend orientiert. Damit lässt es eine Reife im christlich-jüdischen Gespräch erkennen, die in 60 Jahren gewachsen ist.
Dieser entspannte Stil des Gesprächs zeichnete auch den Workshop aus, ohne dass er brisanten Fragen aus dem Weg ging. So fragte ein Teilnehmer aus Äthiopien, wie es um die Botschaft des christlichen Evangeliums für Juden bestellt ist. Er wurde darauf aufmerksam gemacht, dass Paulus Römer 9 – 11 in eschatologisch, also zukunftsorientierter Perspektive schreibt. In Auseinandersetzung mit dem Christentum bekennen Juden Gott seit 2000 Jahren „mit ihrem Leben“, das ihnen von Christen millionenfach genommen worden ist. Christen, so die weitere Auskunft, sollen sich lieber von der jüdischen Frage herausfordern lassen, wie es um den prophetisch und messianisch verheißenen Frieden heute bestellt ist.
An der zweiten Workshop-Sitzung nahm auch Rabbiner Alexander Grodensky aus Luxemburg teil. Er gehört zu den drei Mitgliedern des Internationalen Jüdischen Komitees für Interreligiöse Konsultationen (International Jewish Committee for Interreligious Consultations, IJCIC), die als korrespondierende Gesprächspartner an der Entstehung des Studiendokuments mitgewirkt haben. Inhaltlich setzte er sich mit den exklusiven Ansprüchen des Christentums auseinander, die allein seligmachende Religion zu sein. Demgegenüber wies er auf die Bundesbeziehung hin, die seit Noahs Tagen mit der ganzen Schöpfung besteht: „Meinen Bogen habe ich gesetzt in die Wolken; der soll das Zeichen sein des Bundes zwischen mir und der Erde“(1. Mose 9,13). Inzwischen gehört es auch zur christlichen Einsicht, dass der Bund zwischen Gott und seinem Volk Israel nicht gekündigt ist, sondern bis heute und in Zukunft fortbesteht.
Im Gespräch mit dem Rabbiner wurde deutlich, wie wichtig persönliche Begegnungen für den Fortgang des christlich-jüdischen Dialogs sind. Das existenzielle Berührt-werden und entsprechende Engagement sind entscheidend. Der Dialog mit dem Judentum hat nach der Katastrophe der Schoa in Deutschland begonnen, ist in den Vereinigten Staaten von Amerika weitergeführt worden und breitet sich heute auch in Afrika, Asien und Lateinamerika aus. Generalsekretärin Anne Burkhardt beschließt daher ihr Vorwort zum Studiendokument mit diesem Wunsch: „In unserer Welt, die zunehmend von Polarisierung, Feindschaft und sogar Hass gegenüber Menschen gekennzeichnet ist, die sich von uns unterscheiden, soll dieses Dokument Mitgliedskirchen dazu inspirieren, lokal ebenso wie global Botschafter der Hoffnung zu sein, die Gerechtigkeit, Frieden und Versöhnung zu allen Menschen bringt“ (S.6).
- Krakaus jüdisches Viertel
Um Teilnehmenden der Konferenz, die jüdisches Leben oft nur vom Hörensagen kennen, einen Einblick in reales jüdisches Dasein heute zu ermöglichen, wurden an verschiedenen Tagen für unterschiedliche Sprachgruppen Führungen durch das jüdische Viertel von Krakau „Kasimierz“ durchgeführt. Die deutschsprachige Führung mit „Silvia“ aus Krakau und Hanne Lehming aus Hamburg, an der ich teilnehmen konnte, fand abends im Dunkeln statt. Das an die Weichsel sich anschmiegende jüdische Viertel besaß ehemals 7 Synagogen. Hier ist Spielbergs Film „Schindlers Liste“ gedreht worden. Nach Jahrzehnten des Verfalls blüht dort heute wieder jüdisches Leben einschließlich orthodoxer Traditionen auf. Das Versammlungs-„Haus der jüdischen Gemeinschaft“ neben der fortschrittlichen Synagoge („Tempel“) verdankt seine Existenz der finanziellen Unterstützung des Prinzen von Wales, des heutigen britischen Königs Charles III. Besonders anheimelnd sind die zahlreichen Gasthäuser. Im Klezmer-Haus findet man unter einem Dach massenhafte Bücherstapel, eine gemütliche Gaststätte und abends ab 20:00 Uhr Klezmer-Musik live. Die Alte Synagoge, die auf erste antijüdische Unruhen in Krakau im Jahr 1407 zurückgeht, ist heute ein vielbesuchtes Museum. Natürlich gibt es auch einen großen jüdischen Friedhof, auf dem die alten Grabsteine aus vergangenen Jahrhunderten besonders beeindrucken.
Wenn man durch die Straßen, Plätze und engen Gassen von Kasimierz geht, auf denen sich orthodoxe Juden mit Schläfenlocken ebenso tummeln wie Besucher aus aller Herren Ländern, gewinnt man einen kleinen Eindruck von jüdischem Leben, wie es früher in zahlreichen osteuropäischen Städten bestanden hat. Das Buch „1000 Jahre jüdisches Leben in Polen. Eine Zeitachse“, das uns zum Abschluss der Führung geschenkt wurde, lässt etwas lebendig werden, das heute nicht mehr existiert.
- Die Botschaft
Sie weist darauf hin, dass sich der Lutherische Weltbund bereits 1984 in Budapest, auf seiner 7., aber ersten Vollversammlung in Osteuropa, von Martin Luthers späten antijüdischen Hetzreden und brutalen Empfehlungen gegen Juden klar distanziert hat. „Antisemitismus (steht) im Widerspruch zum Evangelium…und (ist) eine Beleidigung für dieses.“ Es stimmt hoffnungsvoll, dass sich der LWB mit seinem äußerst problematischen antijüdischen Erbe bereits seit rund 40 Jahren selbstkritisch auseinandersetzt und jetzt wieder betont, „mit Liebe und Respekt gegenüber dem jüdischen Volk leben zu wollen“.
In zwei eigenen, besonders hervorgehobenen Absätzen kommt die Botschaft auf den Besuch in Auschwitz zu sprechen:
„Wir gingen durch die Lager von Auschwitz-Birkenau.
Sie wurden transportiert wie Vieh und in den Tod geschickt.
Wir gingen dorthin, um der Wahrheit ins Auge zu sehen.
Sie wurden belogen, erniedrigt und ermordet.
Wir beweinten sie.
Auf unserem Gang durch Auschwitz-Birkenau.
Wir gedachten auch anderer Orte unsäglichen Übels.
Wir besinnen uns darauf, dass es nur eine Menschheit gibt.
Dass alle Menschen dieselbe Gott gegebene Würde haben.
Wir geloben, niemals wieder gleichgültig zu sein.
Wir geloben, Widerstand zu leisten gegen Hetze, Lügen und Gräueltaten.
Wir beten: Nie wieder.“
VI. Inspirierende Wortgottesdienste – enttäuschende Abendmahlsfeiern
- Wortgottesdienste
Die Vollversammlung wurde am Morgen des 13. September in der Krysztoph Penderecki-Halle des Internationalen Kongress-Zentrums mit dem Eröffnungsgottesdienst samt Abendmahlsfeier begonnen. Ein polnischer Chor sang zu Beginn: Laudate Dominum. Die Musikgruppe, die die Versammlung von Anfang bis Ende begleitete, stimmte mit warmen Tönen eines Saxophons und einer jubelnden Klarinette das erste Lied des Argentiniers Pablo Sosa an, das schon in Vancouver 1983 bei der 6. Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen begeistert hatte: Miren, que bueno es – Seht doch, wie gut und herrlich ist‘s, wenn wir in Eintracht miteinander leben… Zur lutherischen Identität gehört nun einmal das Lied der Reformation: „Ein feste Burg ist unser Gott“, während dessen sich alle erhoben und 6 Stewards mit einem blauen Tuch für den Leib, einem roten für den Geist und einem grünen für die Hoffnung das Logo der Welt auf dem Fußboden umschlossen – eine ergreifende Zeichenhandlung. Zur Begrüßung hieß Generalsekretärin Anne Burkhardt die Mitglieder aus jeder einzelnen Weltregion willkommen, was jeweils mit Beifall quittiert wurde. Je ein/e Vertreter/in der Region goss zum Dank für die alle verbindende Taufe Wasser in ein durchsichtiges Taufbecken und empfing als symbolisches Gastgeschenk Brot und Salz. Das Tagesgebet greift das Thema so auf:
„Wir sind verbunden durch die eine Taufe…,
wir haben ein und denselben Glauben…,
wir alle sind Glieder des einen Leibes..,
unsere Herzen schlagen mit einer Hoffnung…“ (S. 28)
Dann hielt die jugendliche Pfarrerin Danielle Dokman aus Surinam eine mitreißende Predigt zum Evangelium der Weisen aus dem Morgenland (Matthäus 2,1-12): Gott beginnt in dieser Welt mit dem zerbrechlichen und hilfsbedürftigen Leib eines Kindes. Dem Geist Gottes in diesem Kind steht der mörderische Macht-Geist des Herodes gegenüber. Wir hoffen, dass mit den Weisen der Weg der Anbetung die Oberhand gewinnt über Kriege und Gewalt in der Welt. Mit viel Beifall bedachte die Gottesdienstgemeinde diese ermutigende Predigt gleich nach dem Amen und am Nachmittag während der Eröffnungssitzung noch einmal. Dieser kreative Wortgottesdienst zu Beginn der Tagung steht exemplarisch für die Morgen- und Abend-Gottesdienste der folgenden Tage. Mit viel Musik, inspirierenden Text-Auslegungen, anregenden Gesprächsgruppen, guten Zeichenhandlungen und meditativer Stille trugen sie erheblich zum Gelingen der Weltkonferenz bei. Man kann das viersprachige Gottesdienstbuch „Versöhnt und Erneuert“– Reconciled and Renewed – mit seinen vielfältigen Texten und begeisternden Liedern nur von Herzen weiterempfehlen.
- Abendmahlsfeiern
Allerdings gab es sowohl beim Eröffnungs- wie beim Schluss-Gottesdienst einen Bruch zwischen Wortgottesdienst und Sakramentsfeier. Er begann gleich mit der Gabenbereitung. Ein einziger Kelch und eine einzige Patene wurden auf einen leeren Tisch gestellt. Die übrigen Elemente von Brot und Wein lagen davor auf mehrere Party-Tische verteilt. Während am Wort-Gottesdienst verschiedene Personen beteiligt waren, stand nun ein/e einzige/r Zelebrant/in einsam und allein hinter dem Tisch. Ein Segenswort für die Gaben – „Gepriesen bist du, Schöpfer der Welt…“ – gab es überhaupt nicht. Der liturgische Dialog – „Erhebet eure Herzen…“ wurde nüchtern gesprochen und ebenso beantwortet – er hatte nichts Erhebendes. Das Abendmahlsgebet – Dank an den Vater, Vergegenwärtigung des Sohnes, Anrufung des Geistes – wurde korrekt rezitiert, ohne dass die Gemeinde mit Antwortgesängen beteiligt worden wäre. Der abschließende Lobgesang wurde gesprochen, als ob man das Singen vergessen hätte. Es waren leider freudlose Abendmahlsliturgien, die großenteils wieder den Einzelnen ansprachen, ohne die Gemeinschaft der zum einen Leib Christi Versammelten zu beflügeln. Zur Kommunion in Prozessionsform musste man auf den Emporen teilweise den Raum ganz verlassen und auf dem Flur die Elemente in Empfang nehmen. Dazu wurden Lieder gespielt, die praktisch niemand kannte. Zu meinem großen Bedauern muss ich einräumen, dass diese Abendmahlsfeiern zu Beginn und am Ende der lutherischen Weltversammlung nicht gelungen waren.
Es ist gewiss schwieriger, in einem Saal als in einer Kirche, in die man auch hätte gehen können!, Abendmahl zu feiern. Hier aber hat die ganze Dimension des umfassenden Leibes Christi gefehlt. Diese Feiern straften die großen Worte zu „ein Leib, ein Geist, eine Hoffnung“ leider Lügen. Sie kamen mir vor wie ein liturgischer Rückfall in theologisch und spirituell längst überwundene Muster. Hier wurde m. E. sichtbar, dass in der lutherischen Tradition die Aufarbeitung des Abendmahls noch nicht ausreichend geschehen ist. Dabei liegt seit über 40 Jahren mit der Erklärung und Liturgie von Lima 1982 ein wegweisendes theologisches und liturgisches Modell vor. Wenn man, wie von lutherischer Seite immer wieder gefordert, mit der römisch-katholischen Kirche in Abendmahlsgemeinschaft treten will, dann kann man sich auf einer Weltkonferenz wie in Krakau solche Abendmahlsfeiern nicht mehr erlauben. Sie sind einfach nicht überzeugend und nicht glaubwürdig.
VII. Das gemeinsame Wort von Genf und Rom
- Rahmen
Für den letzten Morgengottesdienst am 19. September war schon in der Programmübersicht anstelle der üblichen Bibelauslegung ein „Gemeinsames Wort“ angekündigt, das für den Lutherischen Weltbund von Generalsekretärin Anne Burkhardt und für das vatikanische Dikasterium zur Förderung der Einheit der Christen von Kardinal Kurt Koch vorgetragen wurde. Der Gottesdienst begann mit einer Danksagung für und Erinnerung an die eine Taufe. Es ist schon bemerkenswert, dass Kardinal Koch dazu in seinem Grußwort zuerst Martin Luther aus dem Kleinen Katechismus zitierte und dann auch aus dem Ökumenismus-Dekret (22): „Die Taufe begründet.. .ein sakramentales Band der Einheit…“
- Inhalt
Das Gemeinsame Wort beginnt ebenfalls mit der Erinnerung an die eine Taufe und zwar mit Worten des Ökumenischen Glaubensbekenntnisses von Nizäa-Konstantinopel, „dessen 1700-jähriges Jubiläum wir im Jahr 2025 begehen“. Im 2. Abschnitt schlägt das Gemeinsame Wort eine Brücke von der Taufe zum Konsens in der Rechtfertigung, wie er 1999 mit der „Gemeinsame(n) Erklärung zur Rechtfertigungslehre“ formuliert worden ist: „Rechtfertigung (ist) eine sakramentale Wirklichkeit, die in der Taufe zugeeignet wird… Wir bekräftigen, dass das Evangelium und die Kirche miteinander verbunden sind.“ Dieser Rückblick auf Taufe und Rechtfertigung bietet zwar keine neuen Erkenntnisse, bildet aber eine solide Grundlage für die beiden neuen Themen, die im zweiten Teil des Gemeinsamen Wortes angesprochen werden.
Das sind zunächst in Abschnitt 3 die gegenseitigen Verurteilungen in der Reformationszeit. Die Exkommunikation Martin Luthers wird als „Stein des Anstoßes“ bezeichnet, die „mit dem Tod des Reformators längst ihre unmittelbare Wirkung verloren hat…“ Ebenso wird „die Tatsache, dass Martin Luther und die lutherischen Bekenntnisschriften das Papsttum als ´Antichrist´ bezeichnen, ein Stein des Anstoßes“ genannt. Damit wird das Thema erstmals öffentlich benannt, zu dem der „Altenberger Ökumenischer Gesprächskreis“ mit seiner „Altenberger Erklärung“ zu Pfingsten 2020 eine kritische Stellungnahme veröffentlicht hatte. (2) Papst Franziskus hat dazu ein Jahr später in seiner Ansprache an Repräsentanten des Lutherischen Weltbundes am Augustanatag, 25. Juni 2021, in Rom gesagt: „Ihre Generalversammlung im Jahr 2023 könnte ein wichtiger Schritt sein, um das Gedächtnis zu reinigen…“
In Krakau ist es wenigstens zu einem ersten Schritt in dieser Sache gekommen. Denn es geht nicht nur um die Exkommunikation des einen Reformators Martin Luther, vielmehr um „alle die anderen…, die diesem Martinus nachfolgen“ (3), wie immer wieder von Papst Leo X. in seiner Exkommunikationsbulle vom 3. Januar 1521 betont wird, m. a. W. im Klartext auch um die heutigen rund 77 Millionen Mitglieder von Evangelisch-lutherischen Kirchen. Es reicht auch nicht, dass der Lutherische Weltbund die „Antichrist… Ansicht heute nicht unterstützt“. Evangelisch-lutherische Kirchen, die ihre Bekenntnisschriften und damit sich selbst ernst nehmen, müssen diese Verurteilungen des Papsttums in ihren Bekenntnisgrundlagen für heute offiziell außer Kraft setzen. Der Altenberger Ökumenische Gesprächskreis hatte am 27. Februar dieses Jahres für ein „Öffentliches Wort“ in Krakau folgende Formulierung vorgeschlagen: „Wir bedauern aus heutiger Sicht, dass es damals zu gegenseitigen Verwerfungen gekommen ist und bekräftigen…, dass die Verwerfungen der Päpste als ´Antichrist´ durch Martin Luther und Evangelisch-lutherische Bekenntnisschriften das heutige Papsttum und seine Amtsinhaber nicht treffen.“ Der 25. Jahrestag der Unterzeichnung der Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre, der 31. Oktober 2024, ist im kommenden Jahr ein geeigneter Zeitpunkt, um das bisher Versäumte mit einer offiziellen Erklärung beider Seiten zu erledigen.
Der letzte Abschnitt des Gemeinsamen Wortes blickt voraus auf das 500-jährige Jubiläum des Augsburger Bekenntnisses von 1530, die Bekenntnisgrundlage der Reformation. „Es ist die erklärte Absicht des Augsburgischen Bekenntnisses, den Glauben der einen, heiligen, katholischen und apostolischen Kirche zu bezeugen.“ (4) Das Gemeinsame Wort meint dazu: „Eine gemeinsame Reflexion könnte zu einem weiteren ´Meilenstein´ auf dem Weg vom Konflikt zur Gemeinschaft führen, der Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre vergleichbar.“ Das kann man nur aus vollstem Herzen unterstreichen. Dazu gehört dann auch, die um 1980 von katholischer Seite unternommene und vom damaligen Münchener Erzbischof Joseph Ratzinger unterstützte Initiative zum Erfolg zu bringen, das Augsburger Bekenntnis von 1530 (Teil I) als gesamtchristliches Bekenntnis anzuerkennen.
- Reaktion
Die Verlesung des Gemeinsamen Wortes überforderte ganz offensichtlich die Zuhörenden der lutherischen Weltkonferenz, die es auch nicht schriftlich vor sich hatten. Es überfiel sie wie ein Platzregen, der aus heiterem Himmel über sie hereinbrach (wie das gleichzeitige Unwetter auf den Straßen Krakaus). Sie waren aus unerfindlichen Gründen während der gesamten Konferenz mit keinem einzigen Hinweis auf dieses Gemeinsame Wort mit seinen Themen vorbereitet worden. Es war auch schade, dass Kardinal Koch erst und nur am letzten Tag der Konferenz anwesend war. Die beiden Vortragenden reichten sich nach ihrer Verlesung kurz und schüchtern die Hand. Aber es rührte sich keine weitere Hand zum Applaus. Ein Austausch des Friedensgrußes war erst gar nicht vorgesehen. Der Kontrast zur Unterzeichnung der Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre 1999 in Augsburg mit Minuten langem stehendem Beifall hätte nicht größer sein können.
- Podiumsgespräch zum Thema: „Rechtfertigung“
Das sich nahtlos ohne musikalisches Intermezzo an den Morgengottesdienst anschließende Podiumsgespräch ging erstaunlicherweise nicht auf die neuen Themen des Gemeinsamen Wortes ein: Gegenseitige Verwerfungen und Augsburger Bekenntnis-Jubiläum 2030, sondern griff auf das Thema „Rechtfertigung“ von 1999 zurück. Die Leitfrage des Gesprächs hieß: „Wie lautet die Botschaft der Rechtfertigung in der Welt von heute?“
Ich greife 3 Gesichtspunkte heraus: Sowohl Generalsekretärin Burkhardt als auch Kardinal Koch unterstrichen das Gottesgeschenk der vorgängigen Lebensbejahung in einer zunehmend gnadenlosen Welt, in der man durch gute Werke und große Taten sein Daseinsrecht erst beweisen muss. – Hanns Lessing betonte das entscheidende Thema für den Reformierten Weltbund, der die Rechtfertigungserklärung erst fast zwanzig Jahre später im Jahr 2017 unterzeichnet hatte: die Verbindung von Rechtfertigung und Gerechtigkeit in einer von Ungerechtigkeit gezeichneten Welt. Mit dem Propheten Jona geht es um die Frage nach Gerechtigkeit durch Strafen oder durch Erbarmen. Wie sieht Rechtfertigung für Opfer von Ungerechtigkeit aus?
Der Vertreter der Pfingstkirchen, Dr. William Wilson, wusste am lebendigsten und persönlichsten von seiner Erfahrung mit Rechtfertigung zu berichten. Als vor Jahrzehnten seine Ehe und Familie zerbrach, hat er die sein Leben verändernde Erfahrung gemacht, dass die geschenkte Gerechtigkeit Christi sein zerbrochenes Leben wieder zurecht gebracht hat. Dr. Wilson bedankte sich bei den Lutheranern für das „größte Geschenk, das Sie mit der Botschaft von der Rechtfertigung der Welt gemacht“ haben. Für sein Zeugnis von erfahrener lebensverwandelnder Rechtfertigung erhielt er als einziger großen Beifall.
In den letzten Minuten des Gesprächs ging es um die Frage künftiger ökumenischer Themen im Zusammenhang mit der Erklärung zu und Erfahrung von Rechtfertigung. Kardinal Koch fragte wie auch der orthodoxe Vertreter nach der Rolle der Kirche im Prozess von Rechtfertigung in der Welt. Dieses Thema ist bisher offensichtlich zu kurz gekommen. Der methodistische Bischof Abraham setzte sich leidenschaftlich für das Zusammengehen der Verschiedenen ein, die soziale Heiligkeit von Christen, um die Welt zu transformieren. In dieselbe Richtung ging auch Hanns Lessing, dass endlich die Gemeinschaft der Kirchen sichtbare Gestalt annehmen muss, wenn das Zeugnis der Rechtfertigung glaubwürdig bleiben bzw. wieder werden soll. Präsident Musa beschloss die Runde mit seinem Dank und der Bemerkung, dass Christen einer nach Einheit sich sehnenden Welt endlich eine Antwort zu geben haben. „Wenn ihr dies wisst – selig seid ihr, wenn ihr´s tut“, sagt Jesus bei der Fußwaschung zu seinen Jüngern (Johannes 13,17).
- Zusammenfassung
Sowohl das Gemeinsame Wort als auch das Podiumsgespräch sind am letzten Tag der Vollversammlung zu spät gekommen. Beide enthielten gute Ansätze, die es wahrhaftig verdient haben, weiterverfolgt zu werden. Aber dazu fehlte nun schlichtweg die Zeit. Es grenzt schon fast an ein Wunder, dass es an demselben letzten Tag gelungen ist, in zwei Plenarsitzungen rund 20 öffentliche Erklärungen zu verabschieden. Es wäre aber auch nicht falsch, von einer gewissen Fahrlässigkeit zu sprechen, in so kurzer Zeit derart wichtige Themen über die Bühne zu bringen wie den Krieg gegen die Ukraine, christliche Präsenz im Heiligen Land, jüdisch-christliche Beziehungen und das große Thema der Jugend: den Klima-Notstand. Auch hier wäre weniger mehr gewesen.
Befindet sich der Lutherische Weltbund mit seinen 150 Mitgliedskirchen auf dem Weg zu einer „neuen Reformation“? Die Botschaft spricht mehrfach von „Kirchen in fortwährender Reformation“. Das geflügelte Wort von der ecclesia semper reformanda hat auch schon für manchen Unsinn des Zeitgeistes herhalten müssen. Wenn lutherische Kirchen einen ernsthaften Beitrag zu einer neuen, ökumenischen Reformation beisteuern wollen, müssen sie sich von der ständigen Selbstreflexion auf „lutherische Identität“ lösen und danach fragen, welches Thema sie neben der katholischen und den Pfingstkirchen zur Erneuerung des Christentums aus dem Geist der Reformation einzubringen haben. Rechtfertigung und Gerechtigkeit als theologische Grundkategorien und spirituelle Erfahrungen im persönlichen, kirchlichen und politischen Leben bieten hier einen verheißungsvollen Ansatz. Jedenfalls hatte der neue Moderator des Zentralausschusses des Ökumenischen Rates der Kirchen und lutherische Landesbischof Professor Dr. Heinrich Bedford-Strohm völlig recht, als er in seinem Grußwort davon sprach, dass Martin Luther niemals auch nur im Traum daran gedacht hat, eine neue Kirche zu errichten, sondern für seine katholische Kirche Christus wieder zu entdecken und an die ihm gebührende erste Stelle zu bringen. Das geht heute nur in ökumenischer Gemeinschaft.
Die Botschaft der Konferenz greift zum Schluss auch die Perspektive des 500-jährigen Jubiläums des Augsburger Bekenntnisses im Jahr 2030 auf. Wenn dann und dort nicht Selbstbeweihräucherung, sondern Gemeinschaft der Kirchen gefeiert werden soll, haben die lutherischen Kirchen bis zu ihrer nächsten Vollversammlung in 6 oder 7 Jahren noch eine gewaltige Menge an ökumenischer Arbeit zu bewältigen. Werden es sieben fette oder sieben magere kommende Jahre werden?
Anmerkungen
- Er ist inzwischen auf Deutsch erschienen in: Christ in der Gegenwart, Nr. 38, 17.September 2023, S. 3f und Nr. 39, 24. September 2023, S. 3f.
- In: H.-G. Link/J. Wohlmuth (Hg.), In alle Ewigkeit verdammt? Zum Konflikt zwischen Luther und Papst nach 500 Jahren, 2. Aufl., Göttingen/Mainz 2021, S. 32ff. Das anschließende Zitat von Papst Franziskus aus seiner Ansprache an Repräsentanten des Lutherischen Weltbundes, in: Vatican News vom 25. Juni 2021.
- So Papst Leo X. in seiner Exkommunikationsbulle vom 3. Januar 1521, a. a. O. S. 52.
- Mit: Alle unter einem Christus 1980, in: Dokumente wachsender Übereinstimmung (DWÜ) I., Frankfurt/Paderborn 1983, S. 325.